Rundfunk in Hamburg nach dem Ende des II. Weltkrieges
Hamburg ist der Sitz des Nordwestdeutschen Rundfunks, kurz: NWDR. Diese Rundfunkeinrichtung sendet seit dem Ende des Krieges im Mai 1945 für ganz Norddeutschland, für die von der britischen
Militärregierung kontrollierte Besatzungszone. Dieser Rundfunk soll – im Gegensatz zu seiner Rolle als Propagandainstrument im »Dritten Reich« – ein Instrument der Demokratisierung und der
Bildung sowie ein Kulturfaktor sein. Daran arbeiten einige wenige britische Kontrolloffiziere sowie eine engagierte Mannschaft mit neu eingestellten Redakteuren am täglichen Programm.
Die Hörspielabteilung
Eine der Redaktionen im Funkhaus in der Rothenbaumchaussee, dem Sitz des heutigen NDR, ist die Hörspielabteilung. Denn der neue Rundfunk will nicht nur mit den wichtigsten und interessantes
kulturellen Ereignissen vertraut machen und sie an die Hörer vermitteln, der Rundfunk fördert und produziert auch selbst literarische Werke. Die Hamburger Hörspielmitarbeiter sind in dieser Zeit
intensiv auf der Suche nach jungen talentierten Autoren. Als ihnen ein Zufall das Manuskript zu Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert in die Hand spielt, greifen sie zu.
Junges literarisches Talent
Wolfgang Borchert hat kurz zuvor, im Frühjahr 1946, in Hamburg auf sich aufmerksam gemacht. »Wolfgang Borchert ist ein junger Hamburger Schauspieler, der im folgenden eine Episode aus seiner
Leidenszeit als politischer Häftling erzählt«, hieß es knapp in der redaktionellen Einleitung der »Hamburger Freien Presse«, die Borcherts erste Veröffentlichung in der Nachkriegszeit, die
Erzählung Die Hundeblume, in zwei Teilen, abdruckte (Hamburger Freie Presse, 30.4.1946 und 4.5.1946). In literarischen Kreisen merkte man auf den Autor auf, der schwer krank aus dem
Krieg zurückgekehrt war. Ans Bett gefesselt schrieb er zu Hause fieberhaft Gedichte und Erzählungen sowie Draußen vor der Tür, einen Text, den er untertitelte: »Ein Stück, das kein
Theater spielen und kein Publikum sehen will«.
Wie das Manuskript zum Rundfunk kam
Mehrere Personen wollen das Manuskript vom Arbeitsbett in die Hörspielabteilung vermittelt haben. Wahrscheinlich war es Ruth Malchow, Gründerin der Hamburger Spielstätte »Kleine Komödie«, freie
Mitarbeiterin am Sender und eine Freundin der Familie Borchert. Bei einem Krankenbesuch im Herbst 1946 gab Wolfgang ihr eine Typoskriptfassung mit, obwohl er selbst diese noch als unfertig ansah.
Malchow, begeistert von der Lektüre, zeigte den Text dem Dramaturgen Günther Schnabel, der wiederum seinen Bruder Ernst darauf aufmerksam machte. Die Legende will, dass Ernst Schnabel als gerade
ernannter Chefdramaturg und Leiter der Hörspielabteilung noch am selben Abend in die Wohnung Borcherts gefahren sei, um eine Hörspielfassung und -ausstrahlung zu besprechen. Er erkannte sofort
den besonderen Glücksfall dieses literarischen Werkes, ein Zeitstück, geschrieben von einem Autor der so genannten »jungen Generation«. In der Radiozeitschrift »Hör zu!« schrieb er euphorisch:
»Auf dieses Stück haben wir gewartet oder vielmehr genauer: auf diesen Autor«. Seine Hörspielankündigung schloss er mit den Worten: »Wir sind stolz, mit unserer Hörspielsendung der Öffentlichkeit
zum ersten Male auch eine größere Arbeit von ihm übergeben zu können, von der wir uns eine breite und erschütternde Wirkung erwarten« (Hör zu!, Nr. 5, 9.2.1947).
Die Sendung
Am 13. Februar 1947 sendet der Nordwestdeutsche Rundfunk Borcherts Geschichte vom Kriegsheimkehrer Beckmann, der Station für Station immer wieder scheitert. Für den aus Sibirien zurückkehrenden
Soldaten ist kein Platz mehr. Die Nachkriegsgesellschaft verweigert ihm die Integration; Beckmann ist ›draußen vor der Tür‹. Er räsoniert mit seinem Alter ego (der Andere), er klagt Gott und die
Welt an, er schimpft, schreit und stößt seine unbequemen Fragen hervor. Hans Quest, Schauspieler an den »Kammerspielen« und am »Deutschen Schauspielhaus« in Hamburg, erspielt sich mit der Rolle
des zwischen zornigem Aufbegehren und resignierender Trostsuche schwankenden Beckmann seinen künstlerischen Durchbruch. Quests Interpretation der Rolle und die Hörspielregie von Ludwig Cremer
schaffen die bis heute bekannte Hörspielfassung, die sich ohne Musikgestaltung ganz auf die sprachliche Ausdruckskraft konzentriert und den großen moralischen Impuls der Beckmannschen Fragen
betont.
Rezeption
Es war für das zeitgenössische Publikum eine ungeheure Herausforderung, als Beckmanns Schlussfrage »Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner
– keiner – Antwort?« in der Verzweiflung sich steigernd, langsam mit immer mehr Hall ausblendete. Während die Hörspielkritik durchaus abwägend urteilte, ging eine Flut von Hörerbriefen am Sender
ein. Zirka 150 sind im Wolfgang-Borchert-Archiv erhalten. Zwei Grundpositionen lassen sich herauskristallisieren: Zum einen beschweren sich die Hörer vehement über die wiederholte Thematisierung
von Krieg und Schuld, von Nachkriegselend und Arbeitslosigkeit. Rundfunk ist für sie das Medium, das Trost und Ablenkung bieten soll. Sie verwahren sich gegen die »Injektion Nihilismus«, von der
Schnabel in seinem Vorwort zur Sendung spricht (abgedruckt in: Hamburgische akademische Rundschau 1 (1946/47). Zum anderen identifizieren sich viele junge Kriegsheimkehrer vorbehaltlos mit der
Figur des Beckmann. Beckmanns Fragen sind ihre Fragen. Für sie ist der Schöpfer des Beckmann fortan 'ihr' Autor.
Erfolgsgeschichte
Draußen vor der Tür wird ein Erfolgshörspiel. Bereits in den ersten Monaten nach der Ursendung wird es mehrere Male wiederholt und von anderen Sendern wie Radio Frankfurt, Radio
Stuttgart und Radio Bremen übernommen, Radio München produziert das Stück neu. Zusammen mit dem Bühnenwerk, das am 21. November 1947 seine Theaterpremiere in den »Hamburger Kammerspielen« erlebt,
wird Draußen vor der Tür zu einem herausragenden literarischen Ereignis in der Nachkriegszeit.
Die Hörspielausstrahlung von 1947 ist auf CD im Hörverlag (München 2005) erschienen und im Handel erhältlich. Viele Bibliotheken haben die CD-Edition in ihrem Bestand.